Urs Küffer (Grossneffe) erinnert sich an Maria Lauber... (2012)
Maria Lauber im Alten Spritzenhaus. Entdeckungen beim Umzug
Das Chalet Waldfrieden im Widi war nach dem Tod von Fritz und Martha Küffer-Schranz zu räumen, die Gegenstände, welche Maria Lauber dort hinterlassen hatte, in Sicherheit zu bringen. Was die Besitzer über Jahre hinweg respektvoll gehütet hatten - Möbel, Bücher, Briefe, Fotos und persönliche Objekte der Dichterin - sollte nach dem Willen der Erben an die Kulturgutstiftung Frutigen gehen. Ein Glücksfall, dass die Stiftung im Alten Spritzenhaus Räume erworben hatte, welche den reichen Fundus aufnehmen und der Öffentlichkeit zugänglich machen konnte. Damit wurde ergänzt, was mit dem damals bekannten schriftlichen Nachlass (von der Dichterin dem 2008 verstorbenen Jakob Aellig aus Adelboden und dem Schreibenden übergeben) bereits in den Besitz der Stiftung gegangen war. Und damit sollte eine wertvolle Sammlung nicht nur gehortet, sondern lebendig und zukunftsoffen gehalten werden.
Aber eine gute Absicht haben ist das eine, die Duchführung das andere. Ein 60-jähriges dreistöckiges Haus räumen, in dem, was die Dichterin angeht, nicht nur auf Möbel, son-dern überdies auf vergilbte Fotos und zerschlissene Papiere acht zu geben war, das kann zu Ermüdung und Überdruss führen. Es kann aber auch, wie es mir als dem Verantwortli-chen für das Erbe Maria Laubers geschah, zu wunderbaren Entdeckungen führen. Unbe-kannte oder wenig bekannte Seiten Maria Laubers traten hervor, unerwartete Schätze führten den Suchenden in eine versunkene Zeit, welche zu neuem Leben erwachte.
Nicht zufällig in unserer visuell dominierten Welt forderten zuerst Fotografien, vor allem Porträts der Dichterin, meine Aufmerksamkeit heraus. Die Dichterin eine eher ernste Per-son, mit Zügen von Melancholie, sogar Schwermut? Also müssen die Bilder das Anlitz eines Menschen zeigen, dem Kummer und Schmerz Furchen eingegraben haben? Aber da drängte sich zu Beginn Anderes in den Vordergrund: Bilder mit einer heiteren Maria Lauber, wie ich sie kaum gekannt habe. Einmal als junge elegante Frau, vor einem blu-menbekränzten Tischchen stehend; ein andermal, ebenfalls in jungen Jahren, in sommer-licher Kleidung an den Gestaden eines Bergsees auf einem Stein sitzend. Maria Lauber unterwegs, mit Kameraden, die Gesten fröhlich, das Haar wild, der Körper biegsam, ein Mensch, der jedem Schabernack zugetan scheint. Dann Fotos, welche Maria Lauber in-mitten ihrer Schülerschar zeigen. Die Klasse aufgereiht vor dem Schulhaus (mehr als 50 Schüler und Schülerinnen!), die Lehrerin, in Rock und weisser Bluse, ernst, steif, wie es das Protokoll der Schulmethodik verlangte. Aber auch da oft eine fröhliche Lehrerin, die am anstrengenden Schulgeschäft Spass haben konnte. Mögen auf einer der Kiener Bilder einzelne Schüler leicht verkniffen in die Welt schauen, sie sitzt entspannt in der Mitte und lächelt in die Kamera, mit sich und der Welt zufrieden. Heitere Fotos auch aus den spä-teren Lebensjahren: Maria Lauber in der Tracht, Arme und Hände fallen wie schwerelos nach unten, während sonst auf so manchem Bild die rechte Hand die linke hält, als ob sie deren Fallen (oder wildes Ausgreifen?) verhindern müsste; Maria Lauber, die lächend ein Kleinkind auf den Armen wiegt; Maria Lauber, 1960, auf einem Passbild: verschmitzt blickt sie sich selber entgegen, erhaben über jede Bürokratie.
Sieht man diese Bilder, so glaubt man den Aussagen naher Bekannter, Maria Lauber habe durchaus ihre hellen Seiten gehabt, habe ausgelassen lachen und necken können. Hu-morvolle Passagen finden sich ebenso in ihrem Werk, in den Schilderungen der Bräuche etwa. Die Erzählungen Schiidabe und Holztregi sind Beispiele.
Natürlich stiess ich auch auf Fotos, welche die ernste, ja traurige Dichterin zeigen. Gebeugt steht sie vor dem Fotografen, ein Mensch, der sich versteckt vor dem Zugriff der öffentlichen Meinung. Ein Mensch auch, der fürchtet, nicht verstanden zu werden mit der Feinfühligkeit, welche ihn auszeichnet, aber verletzlich macht. Abgründig der Blick auf der Fotografie, welche anlässlich der Verleihung des Frutiger Ehrenbürgerrechts vom 3. Dezember 1966 aufgenommen wird. Viel Ehre, aber für was? so scheinen Miene und Blick auszudrücken.
Ob und wann die fröhlichen Gesichter der Maria Lauber eine Maske zeigten, eine Maske, hinter der sich ihre zeitweilige Schutzlosigkeit verbarg, wer kann das schon wissen? Weni-ge liess sie in ihr Inneres blicken. Mehr von dieser Feinfühligkeit offenbaren die literari-schen Figuren. Chüngold (in der gleichnamigen Erzählung), Batts Röseli (in der Erzäh-lung Der jung Schuelmiischter), die Halbwaise Dichteli (Glogge us der Tüüfi) oder Kobis Elseli (Eghi Brügg) sind nur einige Personen ihres Werks, welche nach aussen robust sind, den zerbrechlichen inneren Reichtum gegenüber den Mitmenschen jedoch ver-schliessen. Sie bleiben stumm, obwohl in ihnen Feuer der Leidenschaft brennen oder Ge-walten des Zorns ob erlittener Ungerechtigkeit die Harmonie der Seele bedrohen. Welch tapfere und starke Menschen sie sind, erweist sich erst, wenn für sie kein Ausweg mehr offen scheint.
Hell oder dunkel? Vielleicht, dass wir Menschen anders nicht zu haben sind: Nicht Ent-weder-Oder, warmherzig oder kalt, fröhlich oder traurig, sondern alles so seltsam ineinan-der verwoben und vermischt, bald ist dies, bald jenes besser bemerkbar, wie Maria Lauber einem jungen Menschen schrieb.
Überrascht war ich, kaum Landschaftsfotografien und nur wenig Bilder von Häusern zu finden, die mit der Dichterin zu tun haben. Unter den wenigen Bildern ist ihr Elternhaus an Prasten. Auf mich wirkt das Haus wie in den Hügel eingegraben, eine bergende Höhle. Heimat pur war es für sie, das belegt vorab die autobiografische Erzählung Chüngold. Hier war der Wurzelbereich ihres Lebens. Er blieb Ort der Sehnsucht für behütete Kindheit. Dass Realitäten der modernen Zeit gierig nach den wenig berührten Halden und den ein-fachen Bewohnern griffen und sich äussere und innere Risse öffneten, ahnte und ängstig-te sie. Das schriftstellerische Bild wurde damit teilweise Wunsch-und Gegenbild. Dann und wann wurde es hohl, Klischee. Bis heute vermag die Gegend um das Geburtshaus jedoch Menschen zu faszinieren, die für landschaftliche Schönheiten, für Geheimnisse der Natur empfänglich sind. Yvonne Lauber, die heute im Haus der Schriftstellerin lebt, zeugt davon.
Auf einigen Fotos sind die Schulhäuser zu erkennen, in denen die Lehrerin und Dichterin wirkte: Stigelschwand bei Adelboden, Neuligen im Emmental, Lenk und Kien. Selten sind die Häuser abgebildet ohne die Menschen, ohne die Schüler und ihre Lehrerin. Ein schö-nes Gehäuse, im Innern anregende Lehrmittel und moderne Lernverfahren - alles bedeu-tet nichts ohne engagierte Menschen, welche die Schule tragen und mit schöpferischem Geist durchwirken. Leicht fiel die Verwirklichung der hehren pädagogischen Intentionen schon in dieser Zeit nicht. Gelegentlich überforderte sich die hochmotivierte Lehrerin. Ihr Selbstzeugnis: Ich habe es nie bereut, den Beruf einer Lehrerin gewählt zu haben. Bis zum letzten Monat, da ich in meiner Schulstube stand, war mir Lehren und Erziehen Freu-de. Oft arbeitete ich mit fast leidenschaftlichem Eifer. Aber ich erlebte nicht nur alle Mühe und Plage, die das Amt des Lehrers mit sich bringt, sondern auch alle Bitternis, die eine gewisse Lebensfremdheit einem Schulmeister bringen kann.
Ein Höhepunkt war für mich die Entdeckung verschiedener Briefe. Diese steckten, zu Bün-deln geschnürt, zwischen Büchern oder waren in schwer zugänglichen Schubladen aufbe-wahrt. Es überwiegen Briefe, welche im Alter geschrieben wurden. Die Briefe der jüngeren Maria fanden bereits Aufnahme ins Archiv, das auf der gründlichen wissenschaftlichen Arbeit des gebürtigen Frutigers Blatter fusst. In den Briefen äussert sich Erfahrung und Lebensweisheit. Zugleich ermöglichen sie einen Einblick in das körperliche und seelische Leid, welches Maria Lauber den Lebensabend verdunkelte. Lauber gibt Menschen Halt - und sucht gleichzeitig nach Menschen, die ihr Halt geben können. Trösten möchte sie eine Verwandte: Möge Gott Deinen Glauben festigen in Deiner schweren Zeit, möchtest Du stets seine Nähe spüren. Alles hat seine Zeit, das Kranksein und das Gesundsein, das Traurig- und das Fröhlichsein (....) Doch, was schreibe ich da, wenn man ganz arm dran ist, hilft kein Trost, er käme denn woanders her als von Menschen. Ihrerseits erfuhr sie Zuspruch von einer Bekannten: Liebes Hanni, vor wenigen Stunden erhielt ich Deinen Brief. Und setze mich hin, Dir zu schreiben.(...) Deine Glaubenszuversicht ist mir Trost und Medizin. Vor ihrem Umzug ins Altersheim sucht sie Rat bei ihrer Freundin: Eben kommt Bescheid, dass nun im Frutiger Altersheim Platz sei für mich. Was rätst Du mir? Eine ganz unbekannte Welt tut sich mir auf zwischen der dritt-und viertletzten Zeile. Weit mehr als das Altersheim...
Ein besonderer Stellenwert im Ensemble der Briefe fällt den Briefen Peter Grossens zu. Grossen, ein Verwandter, war 1881 mit seiner zweiten Frau (die erste war beim Rechen in den Flühen abgestürzt) und drei Kindern nach Amerika ausgewandert, weil für ihn die Hei-mat nicht genug Brot bot. Das Schicksal des Ausgewanderten beschäftigte Maria in zwie-spältiger Weise. Mit dessen Nachfahren hielt sie bis kurz vor ihrem Tod Kontakt, schrieb Briefe auf Englisch.
Sie war in jüngeren Jahren mehrmals über das Frutigtal hinausgekommen, hatte aber, heimwehkrank, oft rasch den Rückweg angetreten. Das belegen frühe Reportagen unter anderem aus dem Wallis und dem Bündnerland. Ihnen folgten Reisen und Journale aus Frankreich, Deutschland, Belgien und Holland. Am Meer wurde ihre Sehnsucht enttäuscht und kippte in ein gesteigertes Sehnen nach den Bergen um. Das Schwanken zwischen Fernweh und Heimweh begleitete sie, muss sie auch am Exempel ihres Verwandten, der sich jenseits eines riesigen Meeres niedergelassen hatte, verfolgt haben. Ferne öffnet den Horizont, bereichert das Leben. Ferne kann die Hoffnung aufrufen, es lasse sich das Zu-viel an Sorgen eindämmen, grössere innere und äussere Freiheit gewinnen. Die Begeg-nung mit Fremdem bietet zudem die Chance, das Eigene besser zu verstehen und zu schätzen. Gleichzeitig drohen in der unbekannten Ferne und Fremde Gefühle der Ver-lassenheit. Dass es nicht darum gehen kann, das Heimatliche mit engen Grenzen zu schliessen, ein Refugium abzuriegeln, wusste Maria Lauber, wie sich gerade in den Rei-seschilderungen zeigt.
Überhaupt: die Reisejournale. In ihnen offenbaren sich Seiten der Maria Lauber, Weltläu-figkeit etwa, die so nicht erwartet werden können. An manchen Orten im Werke der Dich-terin mag man glauben, die Oberländerin sei bloss eine brave Heimatdichterin. Familie, Berge, Bauern (kräftige Sennen und tüchtige Frauen), Mundart und über allem ein all-mächtiger Gott - dann hat man das pure Heimat-Programm. Dann stösst man aber auf Texte - eher frühe - die eine bemerkenswerte gesellschaftskritische Ader erkennen lassen. Bestürzt nimmt sie die gegen die Juden gerichteten Anschläge vor Gastwirtschaften in Mannheim wahr: Juden nicht erwünscht. (...)Wenn ich nun eine Jüdin wäre, müde vom Weg, hungrig, von Durst gequält? Und man wiese mir die Türe? Du schönes Land - ver-hetztes Volk. Im gleichen Reisebericht aus dem Jahre 1938 steht sie fassungslos dem Geschehen gegenüber, wie der deutsche Staat einen Mörder hinrichtet. Beinahe wird es Nacht vor meinen Augen. (...) Hier der Verbrecher, der Mörder - schrecklich ist seine Tat - und dort seine Richter, die wieder morden - schrecklich ist ihre Tat. Nicht fast schrecklicher noch als seine? Er mordete in der Besessenheit - sie aber waren bei ruhigem, klarem Verstande, als sie ihr Urteil sprachen. Dieses Mitgefühl umfasste in einem Journal aus dem Wallis (1934) den von Kindern verspotteten Trottel, und Empörung gegenüber den Erwachsenen, die das zulassen. Sie wagt es gar, zu sehen, was ihr die Liebe zu den Kindern sonst verweigert: Und so sind Kinder, hier im malerischen Münster (...) wie anderswo: gross in ihrer Unschuld, ohne Mass in ihrer Grausamkeit. Die gleiche Em-pörung ( Reformierte Schweiz 1946) in schweizerischem politischem Kontext: Sind nicht Mann und Frau gleich vor Gott! Wieso soll die Frau seit Jahrtausenden mindern Rechts sein? Die Gewährung des Stimmrechts an die Frau dünkt mich eine der grössten Selbst-verständlichkeiten, die es überhaupt gibt. Mag die Frau ihr Stimmrecht dann ausüben oder nicht - wie ist es bei den Männern? - , das ändert an dieser Selbstverständlichkeit nichts.
Unter den Briefen sind zudem Kostbarkeiten aus der literarischen, wissenschaftlichen und religiösen Welt. Herrmann Hesse wird angeschrieben. Dieser antwortete mit einem Porträt und herzlichem Dank. Der berühmte Theologe Karl Barth und Paul Tournier, ein renom-mierter Psychotherapeut aus Genf, sandten der Sinnsuchenden behutsamen Rat. Dichter-kollegen und - kolleginnen wie Simon Gfeller, Cecile Lauber, Joseph Reinhart wechselten mit der Berner Oberländerin Briefe. Während diese Dokumente bereits ins Archiv einge-gliedert sind (und nun in den Lauber Räumen aufliegen), blieben einzelne Bücher und Briefe unentdeckt. Ein Text von Maria Lauber aus dem DU von 1953 (Um ein Brezlein) fand, soweit ich sehe, bisher in keinem Inventar Aufnahme. Und nur ein Teil der Bücher von Begert, Geschenke an Maria Lauber, konnten bislang die Forscher erreichen. Der reformfreudige Pädagoge überreichte Maria Lauber seine Bücher mit schon fast schwär-merischen Widmungen. Ein Beispiel aus Die Lombachschule: Der lieben Dichterin Maria Lauber, die mit ihrem feinen Herzen der Natur, dem Volk, dem Höchsten so nahe ist in herzlicher Verehrung. Fritz J. Begert 4. Oktober 1951
Die gewichtigste Korrespondenz führte Maria Lauber zweifellos mit dem Brienzer Schrift-steller Albert Streich. Die Briefe zeigen ein gegenseitiges Verständnis für den Glanz und die Not einer künstlerischen Existenz. Nirgends offenbart die Frutigerin ihren, wie sie glaubt, widersprüchlichen Charakter klarer, das gelegentlich Heftige, der plötzliche Zorn, abgelöst durch dumpfe Niedergeschlagenheit und Selbstzweifel. Der Briefwechsel mit dem Kollegen ist das Dokument einer berührenden Dichterfreundschaft. Diese wird in einem der Lauber-Räume gewürdigt.
Berührend und gleichzeitig irritierend waren verschiedene persönliche Zeugnisse, die im Zuge der Spurensuche in meine Hände gelangten. Die einen leuchten zart und lebensfroh. Es sind frühe zeichnerische Skizzen und Malereien, darunter Motive wie Bäume und Ber-ge, die später ihr Werk bevölkern sollten. Andere Fundstücke weisen in eine vielschichtige Tiefe, etwa in Versform gestaltete Tagebücher. Wieder andere, Notate in schwarzen Car-nets und auf verblassten Zettelchen, wecken bereits mit ihrem finsteren Aussehen ambiva-lente Gefühle. Hatte ich ein Recht, derart intime Kundgaben zu lesen? Zwar erscheinen die Notizen über vermutete Krankheiten oder Hinweise auf Medikamente aus der alterna-tiven Medizin auf den ersten Blick harmlos, bei näherem Zusehen bieten sie aber Zünd-stoff.
Zur Zeit ihrer Niederschrift trafen bei Maria Lauber vermehrt öffentliche Ehrungen ein. Die-se Ehrungen sowie Briefe von Leserinnen mögen Licht in den Alltag gebracht haben. Eine Leserin aus Bern schreibt am 8. Oktober 1971: Verehrte, liebe Fräulein Lauber, seit langer Zeit wollte ich Ihnen einmal sagen, welch Geschenk Ihre Gedichte für mich sind, wie sie beglücken und erlösen können in ihrem Einssein von Laut und Sinn. Ich denke, vielleicht weiss ein Dichter nicht immer, das jemand seine Gedichte - ausgestreut in goldene Blätter - aufliest, heimträgt, ins eigene Herz legt, sie hegt und pflegt und zuletzt nicht mehr ganz sicher weiss, ob sie da geboren wurden oder da zur Ruhe kommen. Wie eigener Ausdruck werden sie und Trost: „Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide (oder freue)“.
Glücklich stimmten die Dichterin sicher die Vertonungen ihrer Gedichte. Unter den Kom-ponisten waren bekannte Musiker wie J. Bovet oder O.F. Schmalz. Ein Musiker aus dem Berner Oberland, Paul Kramer, fügte seinen Vertonungen Mahnungen an: Nicht mit mo-derner Hatz und Seelenlosigkeit vorzutragen, sondern ruhig (jedoch nicht schleppend) und mit inniger, aber beherrschter Empfindung. Alles Übermass sollte gebannt werden, ein Wall aus zarten Tönen gegen die hektische Moderne errichtet werden. Das mag rückstän-dig erscheinen. Es kann aber auch als Warnung gedeutet werden, überlieferte Rhythmen - Langsamkeit, Beständigkeit, Vertiefung - als Möglichkeit der menschlichen Existenz in einer Welt der fortgesetzten Veränderung nicht zu verabschieden.
Auch der einheimische Musiker Hansadolf Wäfler meldete sich. Er teilt der liebste(n) Dich-terin mit, er habe neue Kompositionen zu ihren Liedern geschrieben. Eines der beiden Lieder betrachte er als beste Komposition meinerseits. Er will die anspruchsvollen Lieder am 29. April 1973 am Amts-Sängertag in Aeschi darbieten.
Maria Lauber verstarb am am 4. Juli 1973.
Wo hat die Schriftstellerin ihre Erzählungen, Verse, Vorträge und Briefe geschrieben? Ich erinnere mich, dass sie vorab an zwei Orten schöpferisch tätig gewesen war. Einige Arbei-ten entstanden am Schiefertisch, der bis zuletzt in dem sich entleerenden Chalet Wald-frieden stehenblieb, bevor er in die Räume im Alten Spritzenhaus wechselte. Ein grösserer Teil schrieb sie am Sekretär, den sie mir bereits zu Lebzeiten geschenkt hatte. Er geriet in den Oberaargau und blieb nur dank der sprichwörtlichen Verlässlichkeit der dortigen Men-schen über Jahrzehnte unversehrt. Somit konnte auch er wieder nach Frutigen zurückge-führt werden. Im Oberbau des Sekretärs befanden sich vermutlich die amtlichen Doku-mente wie Geburtsschein, Impfschein, Identitätskarte und AHV-Ausweis. Mit einem Gummiband geschnürt trotzten sie in einer Kartonschachtel einer raschen Entdeckung. Die Schachtel fand ich in der Nähe der Büchersammlung, die ebenfalls den Weg ins Sprit-zenhaus gefunden hat. In einem schlichten Regal stand Buch an Buch; die Publikationen erzählen eine spannende Biografie der Dichterin. Hilfe bei der Aufhellung können Hefte leisten, in denen die Lesefrüchte eines halben Lebens versammelt sind. Da warten auf den Interpreten spannende Aufgaben.
Noch ein Fund überraschte mich, rückte mir buchstäblich auf den Leib. In einer gut geschützten Ablage stiess ich auf eine Kollektion von Tagebüchern, amtlichen Dokumenten, Briefen, Notizzetteln, die Emmi, der Schwester von Maria, und dem Bruder Hans aus dem Eriz gehörten. Maria Lauber hielt die Dokumente ihrer Geschwister in Ehren. Ihren Bruder Hans nahm sie gar zum Vorbild für die Hauptfigur ihrer hochdeutschen Schrift Eines klei-nen Mannes Ende. Sie sammelte die humorvollen Geschichten ihres Bruders, erfreute sich an den liebevollen Anekdoten, die über ihn kursierten (und sich bis heute im Eriz hal-ten). Mitten in diesen Schätzen entdeckte ich Belege für namhafte materielle Zuwendun-gen, welche Maria dem Bruder gemacht hatte. Die Schenkungen weisen auf einen Ein-satz, der, wenig erkannt, besonders den Aussenseitern, den Verarmten, den gescheiterten und verletzten Existenzen galt. Ihnen - einem Verdingerli, einem Kätheli in ihrem Werk - war Maria Lauber nah. Sie waren Menschen, die Gefühle der Einsamkeit in sich trugen, welche auch sie in sich spürte. Wer mag gewusst haben, dass die Dichterin Geld nicht nur für bedürftige Verwandte, sondern auch für Notleidende in der Gemeinde Frutigen, unter anderem für Schüler in den Spissen ausschüttete? Wer mag ihr zugetraut haben, dass sie Studierende mit Rat und Geld unterstützte, weil sie in Erinnerung behielt, wie hart für sie selbst der Umstand war, dass ihre Eltern materiell nicht auf Rosen gebettet waren? Maria wirkte im Verborgenen. Da ist schon beklemmend, was ich bislang aus einer maschinen-geschriebenen Abschrift kannte, nun aber plötzlich in der handgeschriebenen Urform in Händen hielt, eine mit unruhiger Schrift gefüllte Seite mit vielen Durchstreichungen - der Entwurf ihres Testaments: Es ist mein Wunsch, dass ich zu Grabe gelegt werde wie einer meiner Verwandten an Prasten-Oberfeld: wenig Blumen, keine Rede eines Vertreters der Gemeinde, der Lehrerschaft oder der Schriftsteller. Sie möchten tadeln - das könnte meine Nächsten betrüben; sie möchten rühmen - da ist nichts zu rühmen.
Die Einrichtung der Maria Lauber-Räume (bestückt mit den originalen Möbeln der Dich-terin) im Alten Spritzenhaus Frutigen, die Gestaltung von CDs mit Werken der Dichterin, die Kreationen des Songwriters Trummer zu Maria Lauber Gedichten sowie die geplante Neuausgabe der Lauber-Werke zeigen, dass sie sich getäuscht hat in ihrem rigorosen Selbsturteil. Das Werk hat Bestand. Und: Es wird nicht nur archiviert und damit vielleicht stillgelegt - es lebt in den Schöpfungen gegenwärtiger Künstler und in den Herzen von Menschen unserer Zeit weiter. Davon zeugt nicht zuletzt der Erfolg, der Luise Schranz mit ihren Lauber-Lesungen seit längerem beschieden ist.
Urs Küffer 2012